Islamische Mystik
Beispiel Jallal-ud-Din Rumi
Der Weg des Islams ist mit den Worten des islamischen Mahdis Hadhrat Mirza Ghulam Ahmadas
“sich hineinzuwerfen in ‘das Feuer, das alle niederen Leidenschaften verzehrt’.“
In deutscher Sprache bedeutet Islam so viel wie:
‘sich dem Willen des Allmächtigen, Lebendigen Gottes unterwerfen und dadurch Frieden zu finden’.
Die Einheit von Aussen und Innen ohne Verhaftung an Innen oder Aussen zu verstehen, zu unterscheiden, ohne in der Unterscheidung sich zu verlieren; zu sehen, ohne als Sehender über das Sichtbare zu stolpern; in einer ständigen Suche nach dem Geliebten sich zu verlieren und in Ihm aufzugehen, das umschreibt etwa den Weg des Mystikers.
In einem Gedicht von Jallal-ud-Din Rumi finden wir einen Hinweis auf das Ziel, das in dieser Einheit verborgen ist: darin heisst es:
“Staub auf das Haupt jeder Seele, die nicht Staub ist vor Deinen Füssen! Segen über alle Seelenvögel, die nach dir Verlangen tragen. Wie unglücklich ist der Vogel, der Dich nicht begehrt. Ich will nicht deinen Schicksalsschlag vermeiden, denn sehr unvollkommen ist das Herz, das niemals brannte im Feuer Deiner Betrübnis. Deines Ruhmes und derer, die dich preisen, ist kein Ende. Jedes Atom wirbelt im Tanz zu Deinem Lobe. Nicht wie jenen, von dem Nizami erzählt in seinen Versen, quäle mich, denn ich kann deine Tyrannei nicht ertragen. O Schems Tebrizi, Schönheit und Glanz von allen Horizonten. Jeder König ist ein Bettler vor dir, mit Herz und Seele.“
Mit diesem Gedicht werden wir mitten hineingeführt in die Geheimnisse der islamischen Mystik. Ihr zentrales Thema ist die Einheit. In jedem ‚du’, das Rumi spricht, sind verwoben: Der Lebendige, Sprechende Gott, Dem in Wirklichkeit jedes Liebeslied gilt. In Ihm aufgegangen ist Muhammadsaw, der Prophet par excellence, in dem alle Wahrheiten aller Propheten Klang und Ausdruck gefunden haben. In Muhammadsaw verschmolzen ist der Liebende, der in sich Gott gefunden hat.
In einem Gedicht nimmt Jallal-ud-Din Rumi dieses Wort-Tun hinter den Tun-Worten auf:
“Was ist zu tun, o Moslems? Ich kenne mich selbst nicht mehr Ich bin weder Christ noch Jude, weder Perser noch Moslem. Ich habe alle Trennung überwunden, ich sehe beide Welten als All-Einheit. Eins such ich, Eins weiss, Eins sehe und bekenne ich. ‘Er ist der Erste und der Letzte, das Aussen und das Innen.’ Ich kenne keinen anderen als ‘Gott’ und ‚Ihn, der da ist’. Ich bin trunken von Liebe, die beiden Welten sind meinem Gesichtskreis entschwunden. Ich habe nichts im Sinn als Trank und Lust. Wenn ich einmal in meinem Leben einen Augenblick ohne dich verbringen müsste, von dieser Stunde an gereute mich mein ganzes Leben. Wenn einmal nur in dieser Welt ich einen Augenblick mit dir vereint sein kann, will ich auf beide Welten treten und tanzen im Triumphe immerdar. 0 Schems Tebrizi, ich bin so in Ekstase, dass ausser über Trunkenheit und Lustbarkeit ich keine Lieder mehr zu singen weiss.“
Dieser Zustand der Einheit und des Aussersich-Seins, den er hier beschreibt, entsteht durch Gnade und Barmherzigkeit. Gnade ist das Geschenk, das Gott dem zum Geliebten Gewordenen angedeihen lässt. Durch Gnade wird ihm der Zugang zur Barmherzigkeit geöffnet, die konkret besagt, dass in der immer wiederkehrenden Bitte vor der Tür des Einzigen die Zermalmung des Ichs stattfindet, so dass die Gebete zur Existenz werden und der Betende in sie übergeht. Der Weg, den Rumi dabei geht, ist der Weg des Islams. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Rumi sich an alle 700 Gebote des Korans gehalten hat, dass es gerade dieser Gehorsam dem Gesetz gegenüber gewesen ist, der ihn im Innen und Aussen, in Ekstase und Erklärung hat zum Meister werden lassen. Er meint ja eben auch nicht, dass er etwa kein Muslim mehr sei, wenn er bedeutet: ‚Was ist zu tun, o Moslem? Ich kenne mich selbst nicht mehr. Ich bin weder Christ noch Jude, weder Perser noch Moslem.’ Was er klar machen will, ist die Bedeutung von Muslim-Sein, oder, in seinen Worten, die Bedeutung davon, was die Erleuchtung bewirkt.
Nicht die Formlosigkeit oder die Aufhebung von Form ist sein Weg und sein Ziel, sondern das Einswerden mit Dem, Der Form wie Nichtform geschaffen hat, Der Schöpfer ist. Durch Ihn wird der Muslim verstehen können, was Islam wirklich bedeutet, nämlich die Einheit des Menschen in der Einheit des Propheten, in dem die Menschheit eins wurde, eine Einheit, die der anderen Einheit inne wird, die möglich wurde durch Vereinigung mit der Einheit des Allmächtigen Gottes, der Paradies ist, in Dem die Trennung aufgehoben ist, durch Den sie aber auch erkannt wird. Die Einheit von der Rumi wie die islamische Mystik immer spricht, ist keine Einswerdung im Sinne von Übergang, sondern ein Einssein durch Erhöhung in den Zustand der Einheit. Die eigene Anstrengung, durch das Befolgen der islamischen Gesetze einen Zustand der Vollkommenheit zu erlangen, ist vonnöten. Aber es gibt keinen daraus abzuleitenden Anspruch auf das Paradies, sondern Er, der Gott aller Menschen, ist es, Der gemäss Seiner Weisheit zu Sich ruft.
So werden auch ungewöhnliche Vergleiche von dem islamischen Mystiker in der Reinheit des hinter den Reizen stehenden Erfahrens benutzt, und nicht etwa als Zustandsbeschreibung oder Mitteilung über akute Erlebnisse bloss körperlicher Art.
Der Leser und Hörer indes ist in der Gefahr, im Bild zu versinken und in seiner Falle der Heuchelei und Welt verstrickt, die Inhalte der Gläser nicht trinken zu können. Der Heilige Koran gibt hier den Schlüssel, wenn Gott sagt:
“Nur der Gereinigte kann ihn (den Koran) berühren.“ (56:80)
Für Rumi ist das Leben nur in der Trunkenheit der Offenbarung, in der Lustbarkeit, sie niederzuschreiben, schön.
Die Geschenke, die ihm der Geliebte zusendet, sind seine Speise des Lichts, das heisst: er isst, indem er spirituell geniesst. Die Dimension des Zungengenusses wird aufgehoben und durch den Seelengenuss ersetzt. Dabei hat jedes Nahrungsmittel seinen symbolischen, spirituellen Wert und seine moralische Entsprechung, was uns auch einen Grund dafür eröffnet, dass das „schweinische Schwein“ als Nahrungsmittel abgelehnt wird und der körperliche Weinrausch als grober und verwirrender Reiz zudem.
Jallal-ud-Din Rumi sagt:
“Ich ess‘ nicht Hammel-Kopf – denn Kopf ist schwer, Ich ess‘ nicht Ochsenfuss – das sind nur Knochen, Ich ess‘ Briyani nicht; denn das ist schädlich. Ich esse Licht – das ist der Seele Speise!“
All das heisst nicht, dass Rumi diese vom islamischen Gesetz erlaubten Nahrungsmittel nicht zu sich nähme. Wovon er spricht, ist einmal die spirituelle Seite, zum Beispiel die Gefahr, die von einer Überbetonung des Kopfes, den Denkens, ausgeht – und zum anderen spricht er eben davon, dass er im Zustand des Mystikers ist und isst, ein Zustand, in dem die wahre Bedeutung des Essens wie die aller Tätigkeiten schrittweise offenbart wird.
Es ist also ein “offenbart“-Werden, das geschieht, und nicht etwa ein “offenbar“-Werden. Denn Gott als der Geliebte und Handelnde ist gegenwärtig und wirkend. Er ist der Quell und das Ziel der fliessenden Reise, Er ist die Säule des Hauses, um die herum Rumi tanzt, um seine Dankbarkeit dem Einzigartigen, Liebreichen und Allhörenden, Sprechenden mitteilen zu dürfen. So, wie die Nahrungsaufnahme spirituell wird, so werden andere Tätigkeiten entsprechend mystisch verstanden. Das Geschehen im Alltag hat diese verborgenen Qualitäten, die Erlebnisse im Traum ebenfalls. Der Traum ist dabei die unterste Stufe der Offenbarung, die Allah schenken mag. Das heisst, der wahre Traum, denn neben den Bewusstseinsvorgängen, dem Alltagstraum, gibt es eben auch den offenbarten Traum, der Aussage über ein wesentliches Ereignis vermittelt, der über Zukünftiges zum Beispiel Auskunft gibt und entsprechend den Traumsprachen entziffert und verstanden werden müsste.
Weitere Ebenen sind die des Riechens, des Hörens, Sehens, Schmeckens, Fühlens, Tastens usw. Alle Sinne indes erhalten die Möglichkeit zur himmlischen wie höllischen Wahrnehmung von Geburt an.
Im Zustand des Riechens widerfährt dem Mystiker ein Geruch aus dem Ungesehenen, der ihm Aufschluss über die Eigenart oder Eigenschaft des Gegenübers, des eigenen Tuns, der vorausstehenden Erlebnisse usw. gibt, so dass er sich dementsprechend richten kann.
Was das Sehen betrifft, so sind es verschiedenartige intensive Visionen, die durch Wort oder Bild geschehen, die individuell oder kollektiv erfahren werden.
Im Hören geraten die Ohren in eine Aufnahmefähigkeit, die aus dem Gehörten die Botschaft, die vermittelt wird, in intensiverer Weise heraushört. Es ist dies ein Rückkopplungseffekt, so dass der Sprechende im Zustand der Entrückung von sich selbst zum Beispiel in seinen Worten die weitertragende, durchscheinende Wichtigkeit eines Satzes wahrnimmt, oder im Sprechen des anderen eine Wesentlichkeit erfährt, die ihn betrifft, ohne dass womöglich der andere davon weiss, wiewohl er es bisweilen auch wissen kann. Falls es so ist, nähert sich das dann der kollektiv erfahrenen Offenbarung.
Wichtig ist, dass es sich nicht um Eigenkraft-Einheiten handelt, die da vermittelt werden, – also geschieht ihm die Erfahrung der Ausstrahlung von Geruch, Schall oder Licht nicht zu jedem Zeitpunkt, – sondern dass es eine Vermittlung ist, die dem Bewusstsein des Mystikers als die göttliche Einwirkung bewusst ist. Er hat dabei die Illusion durchbrochen, weil er im Zustand des Gebetes ist und somit in einer dauerhaften Ansprache Gottes.
In einem Gedicht von Jallal-ud-Din Rumi wird die Wichtigkeit dessen, was Offenbarung für einen Mystiker bedeutet, sichtbar, wenn er singt:
“In jeder Strasse sind Kerzen und Fackeln. Denn heute nacht wird die ewige Welt aus der vergänglichen geboren. Du warst Staub und bist Geist, du warst unwissend und bist weise. Er, der dich bis hierher geleitet hat, wird dich auch weiterführen. Wie gut ist die Betrübnis, die er dich erleiden liess, während er dich sanft zu sich wendete. Seine Flammen sind sanft wie Wasser. Ärgere dich nicht über ihn. In der Seele zu leben ist seine Aufgabe. Bussgelübde zu brechen ist seine Aufgabe. Durch seine mannigfachen Kunstgriffe zittern deine Atome in ihrem Innersten. In mir lebt kein anderer, durch den meine Augen strahlen. Wenn Wasser kocht, so geschieht das durch Feuer, verstehst du? Ich habe keinen Stein in meiner Hand und ich streite mit niemandem. Ich bin nicht herrisch, denn die Süssigkeit eines Rosengartens ist in mir. Meine Augen, siehst du, sind aus einem anderen Universum. Hier ist eine Welt, und da ist eine Welt. Ich sitze auf der Türschwelle. Auf der Türschwelle sitzen nur die, deren Beredsamkeit verstummt ist. Darum schweige ich jetzt. In mir ist die Süssigkeit dieses Rosengartens …“
Dieses Gedicht hat wie alle anderen Rumis viele Dimensionen, die alle zu erforschen hier nicht meine Aufgabe sein kann, weil dies nur eine Einführung sein möchte. Die Bilder jedoch, die Rumi hier wie an anderer Stelle verwendet, sind seine Vermittlung seiner Innen- und Aussenwelt. Dass er “keinen Stein“ in seiner Hand hat, sagt etwas über Aggressivität aus, die ja manche dem Islam unterstellen, ob es nun Muslime sind oder waren oder Nicht-Muslime. Stein aber ist auch ein Bild der islamischen Mystik für sündiges Leben, während die leere Hand, die dabei mitschwingt in diesem Bild, den Sufi, den islamischen Mystiker repräsentiert, der sich von seinem Teufel befreit hat und den Versuchungen der Welt nicht mehr erliegt. Zudem ist es ein Eingeständnis, das den Theologen zu verstehen gibt, dass es nicht in der Macht eines Menschen steht, aus sich heraus Offenbarung zu erhalten. Denn im Heiligen Koran finden wir die berühmte Stelle, in der Gott zu dem Prophetensaw sagt:
“Nicht du warfst, sondern Ich warf!“
Dieser Vers ist der Schlüssel für jegliche Mystik des Islams. In ihm wird von einer Begebenheit gesprochen, die während der Schlacht zu Badr geschah. In einer bestimmten Situation, als das Leben der Muslime, die sich gegen den Aggressor wehren mussten, in höchster Gefahr war, nahm der Prophet Muhammadsaw eine Handvoll Staub und Kieselsteine auf und schleuderte sie gegen die angreifenden Heiden. Die Mekkaner wurden davon so verwirrt und geblendet, dass sie den Rückzug antreten mussten. Allah sagt dazu dem Prophetensaw, dass es nicht seine Prophetenentscheidung gewesen sei, sondern dass Gott ihn werfen machte, also dass Gott durch den Prophetensaw die Feinde zurückwarf.
Dieses Erlebnis bildet den Hintergrund für die mystische Erfahrung von Einheit. Dass Rumi keinen Stein in der Hand hält, in seinem Gedicht, ist dabei ein sehr vielfältiges Bild, wie wir sehen. Es ist nämlich zugleich ein Wendepunkt, den er wiedergibt. Wenig später wird dem Beobachter, dem Leser, die Identität Rumis auf gewisse Weise unzugänglich. Denn wer ist es, der sagt:
“Ich bin nicht herrisch, denn die Süssigkeit eines Rosengartens ist in mir. Meine Augen, siehst du, sind aus einem anderen Universum.“
Während am Anfang des Gedichtes die äusserliche Lage als Ausgang für eine Reise nach innen verwandt wird, indem ihre Vielschichtigkeit begriffen und übernommen wird, ist in dem Vers
“Ich habe keinen Stein in meiner Hand und streite mit niemandem.“
jene Seinshaltung erreicht, die dem Mystiker verständlich macht, dass er nicht mehr er selbst ist, sondern von Mineral zu Tier, von Tier zu Mensch, von Mensch zu Engel gewandelt in einen Zustand der Einheit entrückt wurde.
Dabei wird Rumi wie jeder islamische Mystiker niemals vergessen, dass er es ist, der erlebt. Dass er es ist, der “Mineral“ oder “Tier“, “Mensch“ oder “Engel“ ist. Er ist wie diese Form des Seins, aber er wandelt sich nicht in seinem Menschenkern. Er ist im höchsten Zustand der Vereinigung mit Gott wie Eisen im Feuer, um mit einem Bild zu sprechen, das der Mahdias des Islam, der Gründer der Ahmadiyya Bewegung, verwandte, wenn er sagte:
“Es ist, als ob das Feuer Eisen so stark verändert, dass das Eisen scheinbar zu Feuer wird. Auf dieser Stufe sind einige der Gottsuchenden gestolpert. Der Schein wurde für Wirklichkeit gehalten.“
Jallal-ud-Din Rumi ist in diese Falle nicht gefallen, er begreift:
“Hier ist eine Welt, und da ist eine Welt. Ich sitze auf der Türschwelle. Auf der Türschwelle sitzen nur die, deren Beredsamkeit verstummt ist. Darum schweige ich jetzt. In mir ist die Süssigkeit dieses Rosengartens …“
Lassen Sie mich daher schliessen, indem ich demjenigen das Wort überlasse, der in diesen Tagen in seiner Liebe zu Gott und zu Seinem Prophetensaw die vorausgegangenen Muslime übertraf. Hazrat Mirza Ghulam Ahmadas, der Mahdias des Islams, in dessen Gestalt die Wiederkunft von Jesusas und die Ankunft der Propheten dieser Endzeit erfüllt wurde, schreibt in einem Gedicht, das ihm von Gott offenbart wurde:
“Machtvoll ist Er, der Hohe, Aufbaut Er das, was zerbrochen, Vernichtet, was errichtet, Keiner kennt Sein Geheimnis.“
Unser letztes Wort sei: Aller Preis gebührt Allah, dem Herrn aller Welten.
Quelle: Hadayatullah Hübsch, Islamische Mystik, Verlag der Islam, S. 2-29