Die Polygamie (Vielehe) im Islam
Der Heilige Koran ist ein logisches Buch. Insofern könnte es die Muslime niemals dazu angehalten haben, das Unmögliche zu versuchen. Gott hat Männer und Frauen zu fast gleicher Zahl erschaffen – mit einigen wenigen Prozentzahlen mehr oder weniger, je nachdem wo. Wie könnte eine vernunftgemässe Religion wie der Islam, der wiederholt die Tatsache betont, dass es keinerlei Unvereinbarkeit zwischen dem Tun Gottes und dem Wort Gottes gibt, etwas dermassen auffallend Unnatürliches und Wirklichkeitsfremdes predigen, das, falls erprobt, bedenkliche Umstände von Unausgewogenheit, unüberwindliche Schwierigkeiten und Enttäuschung hervorrufen würde? Man stelle sich ein kleines Land mit einer Million heiratsfähiger Männer und der fast gleichen Zahl von Frauen vor.
Falls diese Bestimmung nun ein Gebot wäre, dem alle buchstabengetreu zu folgen hätten, würden bestenfalls 250.000 Männer eine Million Frauen heiraten und 750.000 Männer stünden ohne Frau da. Andererseits ist es der Islam, der unter allen Religionen auf der Welt in seiner Betonung einer Heirat für jeden Mann und jede Frau herausragt. Der Heilige Koran beschreibt die Beziehung eines Ehepaares als etwas, das natürlicherweise auf Liebe beruht sowie darauf, sich gegenseitig eine Quelle des Friedens zu sein:
“Und erlaubt sind euch keusche Frauen der Gläubigen und keusche Frauen derer, denen vor euch die Schrift gegeben wurde, wenn ihr ihnen ihre Morgengabe gebt, nur in richtiger Ehe und nicht in Unzucht, noch dass ihr heimlich Buhlweiber nehmt.“ (5:6)
Gleichzeitig verwirft der Koran das Zölibat und erklärt es zu einer menschgemachten Sitte (57:28). Es gibt nichts dabei zu gewinnen, wenn man sich vom Rest der Welt abschottet oder wenn man sich selbst bestraft, weil man natürliche Triebe verleugnet. Die Verheiratung ist ein wohleingeführter Brauch im Islam, indes erlaubt mir die Zeit nicht, abzuschweifen und die verschiedenen Bedürfnisse hinsichtlich der Ehepartnerwahl, der statthaften Mittel dafür und die Bestimmungen zur Scheidung und so weiter zu erörtern.
Um zur Vielehe zurückzukehren; eine Betrachtung des Heiligen Koran macht es offensichtlich, dass hier der besondere Zustand einer Nachkriegszeit besprochen wird. Es ist eine Zeit, wenn in einer Gesellschaft ein grosser Überhang an Waisen und jungen Witwen besteht, und die Ausgewogenheit der männlichen und weiblichen Bevölkerungsanteile ernstlich in Unordnung ist. Eine ähnliche Lage herrschte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Da Islam nicht die vorherrschende Religion Deutschlands war, besass Deutschland keine Lösung für diese Schwierigkeit. Die strikt einehige Lehre des Christentums konnte da keine Erleichterung bieten. Deswegen musste das deutsche Volk die Folgen dieser Unausgewogenheit erleiden. Es gab eine grosse Menge an Jungfrauen, betrübten Jungfern und jungen Witwen, für die es unmöglich war, eine Heiratsmöglichkeit zu finden. Deutschland war nicht das einzige Land im ausgedehnten Kontinent Europas, das solchen gesellschaftlichen Schwierigkeiten von äusserst gefährlichen und unermesslichen Ausmassen gegenüberstand. Es gestaltete sich als eine zu grosse Herausforderung für die westlichen Nachkriegsgesellschaften, sich dieser Flut entgegenzustemmen und das Wachstum moralischen Niedergangs und wahlloser Geschlechtsbeziehungen in Schach zu halten, die auf so natürliche Weise und so fruchtbar auf den vorherrschenden Unausgewogenheiten gediehen.
Wie von jedweder unvoreingenommenen Person erkannt werden kann, lautet die einzige Antwort auf alle derartig schwierigen Verwirrungen, es den Männern zu gestatten, mehr als einmal zu heiraten. Dies wird nicht als eine Lösung zum Zwecke der Befriedigung ihrer fleischlichen Lüste vorgeschlagen, sondern um den Nöten einer grossen Zahl von Frauen gerecht zu werden. Wird diese sehr vernunftgemässe und wirklichkeitstreue Lösung abgelehnt, lautet die einzige der Gesellschaft bleibende Wahlmöglichkeit, reissend schnell zu einer anhaltend unredlichen und tabufreien Gesellschaft zu entarten.
Leider scheint genau dies die Entscheidung des Westens gewesen zu sein. Wenn man diese beiden Haltungen wirklichkeitsnäher und gefühlsfreier überprüft, wird man nicht darin fehlgehen können zu bemerken, dass dies nicht eine Frage von Gleichheit zwischen Mann und Frau ist, sondern einfach eine Wahl zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit. Islam erlaubt eine mehr als einmalige Ehe nur unter dem Vorbehalt, dass der Mann der Herausforderung dermassen schwieriger und besonderer Umstände mit vollster Verantwortung gegenübertritt und der zweiten, dritten oder vierten Ehefrau das volle Ausmass an Gerechtigkeit und Gleichheit gleichermassen zukommen lässt:
“Und wenn ihr fürchtet, ihr würdet nicht gerecht gegen die Waisen handeln, dann heiratet Frauen, die euch genehm dünken, zwei oder drei oder vier; und wenn ihr fürchtet, ihr könnt nicht billig handeln, dann (heiratet nur) eine oder was eure Rechte besitzt. Also könnt ihr das Unrecht eher vermeiden.“ (4:4)
Die andere Wahl ist wesentlich hässlicher. Eine unangemessen hohe Zahl von Frauen, denen die Heirat verschlossen bleibt, kann nicht für den Versuch getadelt werden, innerhalb von Gesellschaften, die nicht tiefreligiös sind, verheiratete Männer zu verlocken und für sich zu gewinnen. Sie besitzen ihre eigenen Gefühle und unerfüllten Sehnsüchte. Während die psychologischen Kriegserschütterungen den Trieb verstärkten, jemanden zu finden, dem man sich zuwenden konnte, ist ein Leben ohne die Sicherheit einer Ehe und eines Heims, ohne Lebenspartner und ohne Hoffnung auf Kinder, ein Leben, das leer ist. Die Zukunft ist genauso unausgefüllt und trostlos wie das Jetzt. Wenn solche Frauen nicht gemäss des Grundsatzes von Geben und Nehmen rechtsgültig untergebracht und gleichgestellt werden, kann dies verheerend auf den gesellschaftlichen Frieden wirken.
Sie werden sich widerrechtlich sowieso die Ehemänner verheirateter Frauen teilen. Die Folgen können nur grotesk sein. Treue wird gespalten. Verheiratete Frauen beginnen den Glauben an ihre Ehemänner zu verlieren. Argwohn wird sich verbreiten. Der zunehmende Mangel gegenseitigen Vertrauens zwischen den Eheleuten wird die Grundlage vieler Familien zerrütten. Dass untreue Ehemänner nun mit einem Gefühl von Frevel und Schuld leben, wird weitere psychologisch gestörte Vorstellungsinhalte sowie eine sich vergrössernde Neigung zu weiteren Übeltaten nach sich ziehen. Die erhabene Auffassung von Liebe und Treue würde zu den ersten Opfern gehören.
Quelle: Der 4. Khalifa der Ahmadiyya Muslim Jamaat: Mirza Tahir Ahmad, Islam – Antworten auf die Fragen unserer Zeit, Verlag Der Islam, 2008, S. 121-125