Die geistigen Zustände des Menschen
Nun wenden wir uns der dritten Stufe der menschlichen Entwicklung zu, der Frage: Was sind die geistigen Zustände? Wir haben schon eingangs festgestellt, dass dem Koran zufolge die Quelle der geistigen Zustände die “beruhigte Seele“ (Nafs-e-mutmainna) ist, die den Menschen von der Stufe des Moralischen zur Stufe des Gottnahen leitet, wie Gott der Glorreiche sagt:
“Du, o beruhigte Seele, die du deinen Frieden in Gott gefunden hast, kehre zurück zu deinem Herrn, indem Er mit dir zufrieden ist und du mit Ihm. So tritt denn ein unter Meine Diener, und tritt ein in Meinen Garten.“ (89:28-31)
Bei der Behandlung der geistigen Zustände des Menschen ist es angebracht, diesen Vers einigermassen zu erläutern. Wir sollten im Gedächtnis behalten, dass der höchste geistige Zustand, wonach man in diesem Leben trachten kann, der ist, dass man mit seinem Schöpfer in völliger Harmonie steht und seine Ruhe, sein Glück und seinen Trost nur bei Ihm findet. Diese Stufe des Lebens wird auch “Paradies auf Erden“ genannt. Auf dieser Stufe wird die vollkommene Aufrichtigkeit, Reinheit und Treue des Menschen von Gott mit einem Paradies (himmlischen Leben) hienieden belohnt.
Während viele auf das zukünftige Paradies hoffen und warten, befindet jener sich in einem gegenwärtigen, irdischen Paradies. Auf dieser Stufe empfindet der Mensch, dass Gebete und Gottesdienste, die ihm auferlegt worden waren, die wirkliche Nahrung darstellen, von der das Bestehen und Wachstum seiner Seele abhängt, und dass dies die Grundlage seiner geistigen Entwicklung ist. Des Weiteren erkennt er, dass er sich der Ernte seiner Anstrengungen nicht nur in einem künftigen Leben zu erfreuen hat. Auf dieser Stufe erlebt der Mensch, dass die zweite (noch unvollkommene) Stufe – d. h. “die Sich-tadelnde-Seele“ -, obwohl sie dem Menschen die Unlauterkeiten seines Lebens vorwarf, jedoch machtlos war, in ihm den Drang zur Tugend zu wecken und die schlechten Neigungen wirklich als meidenswert erscheinen zu lassen; zudem war sie nicht in der Lage, den Menschen fest auf den Grundsatz der Tugend zu stellen. Es tritt nunmehr eine Veränderung ein, was den Anfang der dritten Stufe – “die beruhigte Seele“ – darstellt.
Auf dieser Stufe wird der Mensch befähigt, den höchsten Erfolg zu erlangen. Die sinnlichen Leidenschaften ersterben, und das Selbst strauchelt nicht mehr, sondern, gekräftigt durch eine stärkende Brise, die über es weht, bereut es seine vergangenen Schwächen. Eine vollkommene Änderung tritt in der Natur und in den Gewohnheiten des Menschen ein, und die früheren Gewohnheiten erleben eine völlige Umwandlung. Der Mensch ist dem bisherigen Weg seines Lebens durchaus entfremdet, von allen Unreinheiten gewaschen und gereinigt. Gott Selbst hat seinem Herzen mit eigener Hand die Liebe zur Tugend eingeprägt und läutert es dadurch vollständig von der Unreinheit des Bösen. Die Heerscharen der Wahrheit lassen sich alle in der Zitadelle seines Herzens nieder, und Rechtschaffenheit herrscht in den Festungen seiner Natur. Die Wahrheit siegt, und die Unwahrheit flieht und legt die Waffen nieder. Die Hand Gottes ruht über seinem Herzen, und er geht jeden Schritt unter Seinem Schatten. Gott weist darauf in den folgenden Versen hin:
“[O ihr Gläubigen!] Gott hat euch den Glauben lieb gemacht und ihn schön geschmückt in euren Herzen, und Er hat euch Unglauben, Widerspenstigkeit und Ungehorsam verabscheuenswert gemacht und euch die Verwerflichkeit der schlechten Wege eingeschärft…All das geschah durch die Gnade und Huld Gottes; und Gott ist allwissend und weise.“ (49:8, 9)
“Gekommen ist die Wahrheit, und dahingeschwunden ist das Falsche. Das Falsche musste ja dahinschwinden.“ (17:82)
Diese Worte weisen auf den geistigen Zustand des Menschen hin, den er auf der dritten Stufe erlangt. Wer diese Stufe nicht erlangt hat, ist des wahren Lichtes und der Einsicht bar. Die Worte “in deren Herzen Gott den Glauben Selbst mit Eigener Hand eingegraben hat, und die Er gestärkt hat mit dem Heiligen Geist“ beziehen sich einzig darauf, dass für den Menschen wahre Reinheit und Rechtschaffenheit ohne die Hilfe von oben unerreichbar ist. Auf der zweiten Stufe der Seele, die wir die “Sich-tadelnde-Seele“ genannt haben, zeigt der Mensch immer wieder Reue und empfindet für eine Weile die Gewissensbisse seiner guten Natur. Bald richtet er sich auf, bald fällt er. Er zweifelt zuweilen an seiner Besserung und glaubt, dass sein Zustand unheilbar sei. Für eine Zeitlang verharrt er in diesem Zustand, aber wenn die bestimmte Stunde kommt, siehe da: es steigt nachts oder tags ein Licht auf ihn herab, welches von einer göttlichen Kraft begleitet wird.
Das Kommen dieses Lichtes bewirkt zugleich eine wunderbare Wandlung in seiner Seele, und er fühlt eine mächtige, unsichtbare Hand ihn aufwärts leiten. Eine neue Welt eröffnet sich ihm, und er erlebt das Dasein Gottes. Seine Augen sind erfüllt von einem neuen Licht, das sie zuvor nicht besassen. Aber wie können wir diesen Pfad entdecken, und wie können wir dieses Licht erwerben? Vergessen wir nicht, dass in dieser Welt jede Wirkung eine Ursache hat, und dass hinter jeder Bewegung ein Antrieb steht. Zu jeder Art des Wissens führt ein bestimmter Weg, der rechte Weg. Man kann in dieser Welt nichts erlangen, ohne jeweils bestimmte Naturgesetze zu befolgen. Diese Naturgesetze bezeugen hinlänglich, dass, um etwas zu erringen, wir des rechten Weges bedürfen, und dass die Erlangung des Zieles das Einschlagen des von der Natur bestimmten Weges bedingt. Wenn wir uns in einem dunklen Zimmer befinden und den Sonnenschein benötigen, müssen wir richtigerweise das der Sonne zugewandte Fenster öffnen. Dann wird auf einmal das Licht eintreten und alle dunklen Ecken des Zimmers erhellen.
In ähnlicher Weise muss es auch ein Fenster geben, wodurch die Segnungen und Gnaden Gottes empfangen werden können, und ebenfalls einen Weg, auf dem der geistige Zustand der menschlichen Seele erlangt werden kann. Es geziemt uns daher, den Weg der Entwicklung und des Fortschritts unseres Geistes zu suchen, wie wir uns Tag und Nacht mit dem beschäftigen, was unseren körperlichen und materiellen Wohlstand fördert. Aber die Frage ist, ob wir diesen Weg bloss durch die schwachen Bestrebungen unseres Verstandes entdecken und ob wir lediglich kraft unseres Scharfsinns eine erfolgreiche Vereinigung mit Gott erzielen können. Ist es möglich, dass nur unsere Logik und Philosophie uns die Türen aufmachen können, die nur durch die mächtige Hand Gottes geöffnet werden?
Wisset mit Sicherheit, dass dies nicht stimmt. Menschliche Vorrichtungen können uns niemals zu dem Lebendigen und Ewigen führen. Der einzige gerade Weg zur Erlangung dieses Zieles besteht darin, dass wir vor allem unser Leben samt unseren Fähigkeiten und Kräften völlig der Sache Gottes widmen und dann unaufhörlich und unerschütterlich die Verbindung mit Ihm erflehen, um so Gott durch Ihn selbst zu finden.
Das beste Gebet, das uns gleichzeitig auch die Zweckmässigkeit lehrt und die angeborene Sehnsucht der Seele versinnbildlicht, ist jenes, welches Gott uns in der Eröffnungs-Sure des Heiligen Korans, Al-Fateha, lehrt. Es lautet:
“Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Aller Ruhm gehört Allah, dem Schöpfer, Erzieher und Erhalter aller Welten.“ (1:1-2)
“Dem Gnädigen, Der aus Seiner Barmherzigkeit für unser Wohlergehen sorgt, bevor wir sie durch jegliche Arbeit verdient haben. Dem Barmherzigen, Der aus Seiner Barmherzigkeit unsere Taten aufs Beste belohnt.“ (1:3)
“Dem alleinigen Herrn des Gerichtstages, Der diesen Letzten Tag niemand anderem übertragen hat.“ (1:4)
“O Du, der Du alle diese Lobpreisungen in Dir vereinigst, Dich allein beten wir an, und Dich allein rufen wir um Beistand in all unseren Angelegenheiten.“ (1:5)
Die Mehrzahl “Wir“ in diesem Zusammenhang deutet an, dass sich unsere einzelnen Fähigkeiten mit der Anbetung Gottes beschäftigen und sich vor Seiner Türschwelle niederwerfen. Denn der Mensch, in Anbetracht seiner inneren Fähigkeiten, ist nicht als ein blosses Individuum zu betrachten, sondern als eine Gruppe und eine Gemeinde, und das Sich-Niederwerfen seiner sämtlichen Fähigkeiten vor Gott ist der Zustand, den wir Islam nennen. Das Gebet lautet weiter:
“Führe uns auf den rechten Weg, der zu Dir führt, und lass es so sein, dass wir uns auf diesem Weg halten, und dass wir den Fussstapfen derjenigen folgen können, auf die sich Deine Segnungen und Gnaden niedersenken. Bewahre uns vor dem Pfade jener, auf die Dein Zorn herabstieg und die Dich nicht haben erreichen können, sondern die irregegangen sind. Amen! Mache es so, unser Gott!“ (1:7)
Diese Verse machen klar, dass die Segnungen Gottes und Seine Gnaden nur auf jenen ruhen, welche ihr Leben auf dem Pfade Gottes opfern, sich in Seinen Willen völlig ergeben und, im Trachten nach Seinem Wohlgefallen, sich Ihm gänzlich unterordnen und von Ihm all die geistigen Segnungen erflehen, die man durch Einssein mit Gott je erhalten kann, um somit die Stufe zu erreichen, auf der man mit Gott spricht und Seine Stimme hört. Sie setzen all ihr Können für die Hingabe an Gott ein. Sie scheuen jede Übertretung der Gebote Gottes und werfen sich vor Seiner Türschwelle nieder. Sie meiden, soweit sie es vermögen, alles Böse und unterlassen alles, was den Zorn Gottes erregen könnte. Da sie Gott in erhabener Entschlossenheit und wahrer Aufrichtigkeit suchen, finden sie Ihn auch und haben die Möglichkeit, sich am Becher der reinen Gotteserkenntnis zu laben.
Der Vers betont Beharrlichkeit und Standhaftigkeit und deutet an, dass die wahre und vollkommene Gnade, die einen Menschen in die geistige Welt führt, die vollkommene Standhaftigkeit voraussetzt, indem der Mensch ein so hohes Mass an Festigkeit und Treue an den Tag legt, die keine Prüfung erschüttern kann. Er muss eine Verbindung mit Gott haben, die kein Schwert zu durchtrennen und kein Feuer zu verbrennen vermag; keine Widerwärtigkeit hat die Macht, das Band zu lockern; der Tod der nächsten Verwandten beeinträchtigt es nicht, die Trennung von den Lieben tritt nicht dazwischen, und die Furcht vor dem Verlust der Ehre kann es nicht gefährden. Bevorstehender furchtbarer, schmerzvoller Tod kann es nicht im Geringsten erschüttern. Eng ist diese Pforte und schwierig der Pfad. Ah! Welch ein Berg ist zu erklimmen! Darauf lenkt Gott im folgenden Vers unsere Aufmerksamkeit:
“Sprich, wenn eure Väter und eure Brüder und eure Frauen und eure Verwandten und das Vermögen, das ihr euch erworben, und der Handel, dessen Niedergang ihr fürchtet, und die Wohnstätten, die ihr liebt, euch teurer sind als Gott und Sein Gesandter und das Streiten in Seiner Sache, dann wartet, bis Gott mit Seinem Gericht kommt; und Gott leitet die Übeltäter nicht.“ (9:24)
Der Vers zeigt, dass diejenigen, die ihre Verwandtschaft und ihr Vermögen dem Wohlgefallen Gottes vorziehen, in Seinen Augen die Übeltäter sind. Sie werden sicherlich ihrem Verderben entgegengehen, da sie anderes Gott vorgezogen haben. Dies ist die dritte Stufe, und allein auf dieser Stufe wird der Mensch gottesfürchtig, vorausgesetzt, dass er willens ist, für die Sache Gottes tausendfache Kümmernis auf sich zu laden und sich mit solch absoluter Hingabe und Aufrichtigkeit Ihm zuzuwenden, als ob alle anderen ausser Ihm tot wären.
Die Wahrheit ist, dass wir den lebendigen Gott unmöglich sehen können, ehe nicht eine Art von Tod uns ereilt. Der Tag des Sterbens unserer körperlichen Begierden ist der Tag der Manifestation Gottes. Wir sind blind, solange wir unsere Augen vor gottfremden Gegenständen nicht verschliessen, und wir sind leblos, solange wir uns nicht wie Tote in die Hand Gottes legen. Die Standhaftigkeit, die uns die Überwindung aller fleischlichen Begierden ermöglicht, kann nur und ausschliesslich dadurch erlangt werden, dass wir unser Gesicht Gott zuneigen. Das ist die Aufrichtigkeit, die den körperlichen Leidenschaften den Todesstoss versetzt. Der folgende Satz des Korans nimmt Bezug auf diesen Zustand:
“Nein, wer sich gänzlich Gott unterwirft und Gutes tut…“ (2:113)
Die Worte fordern, dass wir unseren Nacken in voller Ergebenheit vor Ihm beugen sollen. Diese Stufe der Rechtschaffenheit kann erst dann erreicht werden, wenn alle Glieder unseres Körpers und sämtliche uns erhaltenden Kräfte Gott zu Gebote stehen, und unser Tod und unser Leben nur die Erlangung des göttlichen Wohlgefallens zum Ziel haben, wie es steht:
“Sprich: ‘Mein Gebet und mein Opfer und mein Leben und mein Tod gehören Gott, dem Herrn der Welten‘.“ (6:163)
Wenn die Liebe des Menschen zu Gott so gross ist, dass sein Leben und sein Tod nicht für sich selbst, sondern gänzlich für Gott sind, dann heisst es, dass Gott, Der ewig jene liebt, die Ihn lieben, Seine Liebe auf diese Menschen verströmt. Der Vereinigung dieser zwei Liebeskräfte entspringt ein Licht, das die Welt weder zu erkennen noch zu begreifen vermag. Tausende von Rechtschaffenen und Auserwählten sind kaltblütig ermordet worden, nur weil die Welt sie nicht erkannte. Die Welt nannte sie Betrüger und Habgierige, da sie das Licht auf ihren Gesichtern nicht sehen konnte, wie es heisst:
“[Die Ungläubigen] schauen nach dir, doch sie sehen dich nicht.“ (7:199)
Vom Tage an, da dieses Licht in dem irdischen Menschen erzeugt wird, wandelt sich dieser zum himmlischen Wesen. Der Meister aller Geschöpfe spricht aus ihm, der solchermassen neugeboren wird, und Er beleuchtet ihn mit dem Glanz der Göttlichkeit. Er macht sein Herz, das von der unverfälschten Liebe zum Herrn überfliesst, zu Seinem Schrein und zum Thron Seiner Herrlichkeit. Von dem Augenblick der Erneuerung an, die sich in einem solchen Menschen nach der Umwandlung vollzogen hat, verhält Sich auch Gott ihm gegenüber wie ein neuer Gott, indem Seine Behandlung und Seine Gesetze für ihn anders wirken. Es ist aber nicht so, dass Gott ein anderer Gott wird, oder dass Seine Gesetze und Sein Verfahren sich ändern; doch sind sie verschieden im Gegensatz zu Seinem gewöhnlichen Verfahren, aber die Weltklugen haben davon keine Ahnung. Auf solche Menschen bezieht sich dieser Vers:
“Unter den Menschen sind jene Typen der Vollkommenheit, die sich auf der Suche nach dem Wohlgefallen Gottes verlieren, die ihr Selbst sozusagen verkaufen im Trachten nach dem Wohlgefallen Gottes; auf sie steigt die Barmherzigkeit Gottes herab.“ (2:208)
Ähnlich ist der Fall desjenigen, der die Stufe der geistigen Vollkommenheit erreicht hat, indem er sein Selbst auf dem Pfade Gottes opfert. Gott sagt in diesem Vers, dass ein Mensch, der sich dem Willen Gottes hingibt und durch seine Aufopferung seine völlige Hingabe an Gott beweist, von allen Beschwerden befreit wird. In den Augen eines solchen Menschen besteht der Zweck seines Daseins nur im Gehorsam gegenüber Ihm und im Dienst an den Mitmenschen. Jede ihm innewohnende Kraft ist mit der Durchführung des reinen Guten beschäftigt, und zwar getragen von aufrichtigem Eifer, von Interesse und Freude, als ob er im Spiegel seines Gehorsams und seiner Ergebenheit seinen wahren Geliebten erblickte.
Seine Absicht stimmt mit derjenigen Gottes überein, und seine ganze Wonne besteht nur im Gehorsam zu Ihm. Er vollbringt gute Taten nicht als auferlegte Bürde, sondern seine Natur fühlt sich zu dieser Richtung hingezogen, und seine höchste Freude und Glückseligkeit liegt im Vollbringen der Tugend. Dies ist das “Paradies auf Erden“, welches dem geistigen Menschen beschieden wird und dessen Abbild oder Schatten das versprochene Paradies sein wird – das Sinnbild für Gottes Allmacht im Jenseits. Die angeführten Verse führen weiter aus:
“Wahrlich, Wir haben für die Ungläubigen, die nicht glauben wollen, Ketten, eiserne Nackenfesseln und ein flammendes Feuer bereitet.“ (76:5)
Der Vers bedeutet, dass denjenigen, die Gott nicht aufrichtig suchen, durch die Gesetze Gottes ernste Folgen drohen. Sie sind in die weltlichen Angelegenheiten so verwickelt, als ob ihre Füsse gefesselt wären. Sie beugen sich unter den weltlichen Sorgen so tief, dass sie Nackenfesseln um ihren Hals zu tragen scheinen, die es ihnen nicht erlauben, mit aufrechtem Kopf zum Himmel hinaufzuschauen. Ihre Herzen brennen für sinnliche Wünsche und Begierden, und sie kümmern sich fortwährend darum, mehr Geld zu verdienen, ihren Reichtum zu vermehren, Herrschaft über andere Gebiete zu erlangen, oder einen Rivalen zu stürzen. Da sie sich in den Augen Gottes als unwürdige Menschen erweisen, die nur Schlechtes verfolgen, liefert sie Gott den drei Leiden aus (Ketten, Nackenfesseln und Feuer).
Wir haben hier einen Hinweis darauf, dass jeder Tat des Menschen eine entsprechende Tat Gottes folgt. Wenn man zum Beispiel alle Türen und Fenster seines Zimmers verschliesst, ist die eintretende Finsternis eine Tat Gottes. Eigentlich ist alles, was wir als die natürlichen Folgen unserer Handlungen ansehen, die Tat Gottes; denn Gott ist die Ursache der Ursachen. Das Gift zu sich zu nehmen ist die Tat des Menschen, aber diese Handlung zieht Tod nach sich, welches als die Tat Gottes oder die natürliche Folge zu bezeichnen ist. Begeht man etwas Unsittliches, was eine ansteckende Krankheit hervorruft, so muss man die Folgen – die eine Tat Gottes sind – davon tragen. Wie in der materiellen Welt, so auch in der geistigen gilt die Regel, dass jede Tat nach einer entsprechenden Wirkung ruft; und diese Folge ist jeweils die Tat Gottes. Darauf weist Gott an zwei verschiedenen Stellen eindeutig hin:
“Diejenigen, die ihr Bestes getan haben, um Uns zu suchen, Wir werden sie gewiss leiten auf Unseren Wegen (als Folge ihrer Bestrebungen).“ (29:70)
“Aber diejenigen, die eine krumme Richtung nehmen und dem rechten Weg nicht folgen, lassen Wir auch ihre Herzen krumm werden.“ (61:6)
Der Gedanke wird ferner entwickelt im folgenden Vers:
“Wer aber blind ist in dieser Welt, der wird auch im Jenseits blind sein, nein, sogar weit abirrender vom Weg.“ (17:73)
Diese Verse legen klar dar, dass die Rechtschaffenen das Antlitz Gottes selbst in diesem Leben sehen; und Er offenbart Sich ihnen in aller Majestät und Herrlichkeit, da sie alles um Seinetwillen aufgeben. Das himmlische Leben (das Paradies) – so besagt der Vers – tut sich schon in diesem Leben auf, ebenso ist die Grundlage der Blindheit hienieden die Hölle, geschaffen durch die Unlauterkeiten des Lebens und die Blindheit gegen die geistigen Werte. An einer anderen Stelle heisst es diesbezüglich:
“Und bringe frohe Botschaft denen, die glauben und gute Werke tun, dass Gärten für sie sind, durch die Ströme fliessen.“ (2:26)
Gott vergleicht hier den Glauben mit einem Garten, unter dem Ströme fliessen. Diese Worte enthüllen ein tiefes Geheimnis, das die Beziehung zwischen Glaube und guten Taten unterstreicht. Das heisst, die guten Taten stehen zum Glauben in der gleichen Beziehung wie Wasser der Ströme zu einem Garten. Ein Garten, wenn er nicht bewässert wird, wird verdörren; in gleicher Weise wird der Glaube, wenn er nicht von guten Taten begleitet ist, welken. Glaube ohne gute Taten ist nutzlos, und gute Taten ohne Glauben sind eine Schaustellung.
Das islamische Paradies ist eine Reflektion des Glaubens und der guten Taten eines Menschen in der Welt. Das Paradies eines jeden ist lediglich ein Abbild seiner Taten in diesem Leben. Es kommt nicht von aussen her, sondern wächst in uns selbst. Es sind unser eigener Glaube und unsere eigenen Taten, die uns später in der Form des Paradieses begegnen, worin wir weilen werden, aber wir haben den Vorgeschmack dieser Paradiesesfreuden schon in diesem Leben. Wir nehmen den Baum des Glaubens und die Ströme unserer guten Taten in diesem Leben wahr, auch wenn nur undeutlich. Im Jenseits hingegen werden alle Schleier, die dieses Paradies unseren Augen verbergen, sich heben, und wir werden dies fühlbar erkennen.
Quelle: Der Verheissene Messiasas: Mirza Ghulam Ahmad, Die Philosophie der Lehren des Islams, Verlag Der Islam, 3. Auflage, S. 130-147