Blasphemie (Gottestlästerung)
Islam geht einen Schritt weiter als jede andere Religion, wenn es um die Gewährung der Redefreiheit und Freiheit der Ausdrucksweise geht. Kein Zweifel, Gotteslästerung wird aus moralischen und sittlichen Gründen verurteilt, gleichwohl schreibt der Islam für Gotteslästerung keinerlei körperliche Strafe vor, trotzdem die gegenwärtige Welt dieser Ansicht allgemeinhin anhängt.
Ich habe den Heiligen Koran ausführlichst und wiederholt mit tiefer Konzentration erforscht, indes gelang es mir nicht, einen einzigen Vers zu finden, der Gotteslästerung zu einem Verbrechen erklärt, das von seiten des Menschen zu bestrafen sei. Obgleich der Heilige Koran ungebührliches Benehmen und ungebührliche Rede oder das Verletzen von Gefühlen anderer, mit oder ohne Sinn und Verstand, äusserst nachdrücklich entmutigt, verficht Islam weder die Bestrafung von Gotteslästerung in dieser Welt, noch stattet er irgendeinen Menschen mit solcher Machtbefugnis aus.
Gotteslästerung kommt im Heiligen Koran fünfmal vor.
Beispielsweise wird dieses Thema im allgemeinen Sinne erwähnt:
“Und Er hat euch schon in dem Buch offenbart: wenn ihr hört, dass die Zeichen Allahs geleugnet und verspottet werden, dann sitztet nicht bei Ihnen (den Spöttern), bis sie zu einem anderen Gespräch übergehen; ihr wäret sonst wie sie. Wahrlich, Allah wird die Heuchler und die Ungläubigen allzumal in der Hölle versammeln.“ (4:141)
Oder:
“Wenn du jene siehst, die über unsere Zeichen töricht reden, dann wende dich ab von ihnen, bis sie ein anderes Gespräch führen. Und sollte dich Satan (dies) vergessen lassen, dann sitze nicht, nach dem Wiedererinnern, mit dem Volk der Ungerechten.“ (6:69)
Was für eine prächtige Entgegnung auf die schiere Hässlichkeit von Gotteslästerung! Islam verbietet es nicht nur jedem Menschen, die Bestrafung des Gotteslästerers in seine oder ihre Hände zu nehmen, sondern verkündet, dass die Menschen ihrem Widerspruch dadurch Ausdruck verleihen sollen, eine Versammlung von Menschen, wo religiöse Werte verspottet und ins Lächerliche gezogen werden, unter Protest zu verlassen. Von Vorschlägen zu etwaigen bestimmten Massnahmen einmal abgesehen, wird vom Heiligen Koran nicht einmal eine bleibende Ächtung des Gotteslästerers verordnet. Im Gegenteil, der Heilige Koran verdeutlicht ausreichend, dass solch eine Ächtung nur für die Dauer aufrechtzuerhalten ist, die der Akt der Gotteslästerung in Anspruch nimmt.
Ein weiteres Mal wird Gotteslästerung in der Sure (Kapitel) Al-An’am erwähnt, wo, angenommenerweise, die Frage der Gotteslästerung nicht nur in Bezug auf Gott, sondern auch in Bezug auf Götzen und scheinbare Objekte der Anbetung neben Gott erörtert wird. Die Schönheit der koranischen Lehre überwältigt einen, wenn man liest:
“Und schmähet nicht die, welche sie statt Allah anrufen, sonst würden sie aus Groll Allah schmähen, ohne Wissen. Also liessen Wir jedem Volke sein Tun als wohlgefällig erscheinen. Dann aber ist zu ihrem Herrn ihre Heimkehr; und er wird ihnen verkünden, was sie getan.“ (6:109)
Es sind die Muslime, die in diesem Vers angesprochen werden. Es wird ihnen strengstens verboten, über die Götzen und Scheingötter der Götzendiener zu lästern. Es wird gleichfalls darauf hingewiesen, dass dann, wenn man so etwas täte, andere, als Vergeltungsmassnahme, der Lästerung Gottes frönen könnten. In dieser gedachten Erörterung von einer gleichberechtigten Lästerung Gott und Götzen gegenüber, ist weder in dem einen noch in dem anderen Fall irgendeine körperliche Bestrafung verordnet.
Die Moral dieser Lehre ist reich an tiefer Weisheit. Wenn sich jemand hinsichtlich des eigenen geistigen Empfindungsvermögens eines Vergehens schuldig macht, hat die geschädigte Partei ein Recht darauf, dieses in gleicher Münze heimzuzahlen, unabhängig von der Natur seiner Glaubensvorstellungen und davon, ob er recht hat oder nicht. Ebensowenig ist es erlaubt, auf andere Art und Weise Vergeltung zu üben. Hieraus kann fraglos der Schluss gezogen werden, dass eine spirituelle Kränkung anhand spiritueller Mittel vergolten werden soll, genauso wie eine körperliche Beleidigung durch körperliche Reaktion vergolten wird – indes immer ohne das Mass zu überschreiten.
Gotteslästerung wird im Heiligen Koran in Bezug auf Maria und Jesusas erwähnt:
“Und ihres Unglaubens willen und wegen ihrer Rede – einer schweren Verleumdung gegen Maria.“ (4:157)
Dieser Vers bezieht sich auf die geschichtliche Haltung der zeitgenössischen Juden zur Zeit Jesu Christias. Diesem Vers zufolge begingen die Juden eine schwere Gotteslästerung, weil sie Maria als unzüchtig bezeichneten und Jesusas als Kind fragwürdiger Herkunft beschuldigten. Der arabische Begriff Buhtanan ’Asiema (obenstehend übersetzt mit „als einer schweren Verleumdung“) bringt die Verdammung einer solchen von den Juden begangenen Torheit aufs schärfste zum Ausdruck. Überraschenderweise wird dennoch keine körperliche Bestrafung verordnet.
Eine interessante Beobachtung ist die, dass wohingegen die Juden durch den Koran dafür verurteilt werden, dass sie gegenüber Maria und Jesusas einen Akt der Gotteslästerung begingen, gleichzeitig die Christen nun ihrerseits für die Lästerung Gott gegenüber getadelt werden, indem sie behaupteten, dass Gott durch eine menschliche Ehefrau ein Sohn geboren worden sei. Indem darauffolgenden Vers erklärt der Heilige Koran dies zur Ungeheuerlichkeit. Dennoch wird keine körperliche Züchtigung irgendeiner Art befürwortet, noch wird irgendeiner menschlichen Obrigkeit das Recht abgetreten, Lästerung Gott gegenüber zu bestrafen.
“Sie haben keinerlei Kenntnis davon, noch hatten es ihre Väter. Gross ist das Wort, das aus ihrem Munde kommt. Sie sprechen nichts als Lüge.“ (5:6)
Lassen Sie mich zuguterletzt auf den empfindsamsten Punkt zu sprechen kommen – weitaus empfindsamer in dem Sinne, dass die heutigen Muslime einer Lästerung gegenüber dem Heiligen Begründersaw des Islam empfindlicher sind als einer Lästerung irgendeiner anderen Sache gegenüber – sogar derjenigen Gottes! Und doch gibt es einen Fall der Lästerung, der so schwerwiegend ist, dass er sogar im Heiligen Koran selbst aufgezeichnet ist und dieser über Abdullah bin Ubbay bin Salul – in der Geschichte des Islam als der Anführer der Heuchler bekannt, spricht. Als sie einstmals von einer Expedition zurückkehrten, verkündete Abdullah bin Ubbay in Anwesenheit anderer, dass in dem Moment, in dem sie nach Medina zurückkehrten, die Nobelsten die Geringsten unter den Medinitern verstossen würden:
“Sie sprechen: Wenn wir nach Medina zurückkehren, dann wird der Angesehenste sicherlich den Geringsten daraus vertreiben, obwohl das Ansehen nur Allah und Seinem Gesandten und den Gläubigen gebührt; allein die Heuchler wissen es nicht.“ (63:9)
Jedermann verstand, dass diese Beleidigung gegen den Heiligen Prophetensaw gerichtet war. So sehr kochten sie vor Zorn und Entrüstung, dass sie, falls es ihnen erlaubt gewesen wäre, Abdullah bin Ubbay zweifelsohne mit dem Schwert hingerichtet hätten. Es ist verbürgt überliefert, dass die Gefühlswallungen hinsichtlich dieses Vorfalls dermassen aufgewühlt waren, dass keine geringere Person als die des Sohnes von Abdullah bin Ubbay selbst den Heiligen Begründersaw des Islam aufsuchte und um Erlaubnis trachtete, seinen Vater mit eigenen Händen zu töten.
Der Sohn argumentierte, dass in dem Fall, wenn eine andere Person ihn tötete, er späterhin gegenüber dem Mörder seines Vaters unbewusst den Gedanken an Rache hegen könnte. Seit Jahrhunderten waren die Araber daran gewöhnt, selbst aufgrund der kleinsten Beleidigung, die gegen sie oder ihre nahen Verwandten geäussert wurde, Rache zu nehmen. Vielleicht war es dieser Brauch, den der Sohn im Sinne hatte. Der Heilige Prophetsaw indes weigerte sich, seiner Bitte nachzukommen. Ebensowenig gestattete er es irgendeinem anderen seiner Gefährten, den Heuchler Abdullah bin Ubbay zu bestrafen, auf welche Art und Weise auch immer. (Überliefert von Ibn Ishaq: Al-Seera tun Nabawiyya von Ibn Hashim, Teil III, Seite 155)
Nachdem er von der Expedition nach Medina zurückgekehrt war, lebte Abdullah bin Ubbay in Frieden. Als er schliesslich verstarb, eines natürlichen Todes selbstverständlich, übergab der Heilige Prophetsaw zum Erstaunen aller sein eigenes Hemd an Abdullahs Sohn, so dass er den Leichnam seines Vaters für das Begräbnis darin einwickeln konnte – wahrlich ein einzigartiger Akt der Segnung, der unter den anderen Gefährten sicherlich ein Gefühl des Verlangens hervorgerufen haben muss, es ihm unbedingt abzuhandeln, selbst wenn es all ihre Besitztümer kosten sollte. Und nicht nur das. Der Heilige Prophetsaw entschied sich dazu, sein Totengebet zu leiten. Diese Entscheidung muss viele seiner Gefährten zutiefst verunsichert haben, die Abdullah für die oben erwähnte, zutiefstgehende Beleidigung niemals vergeben konnten.
Gleichwohl fiel es Umarra zu, der dem Heiligen Prophetensaw später als Zweiter Kalif folgte, ihrer unterdrückten Unsicherheit Gehör zu verschaffen. Es wird überliefert, dass, als der Heilige Prophetsaw sich zum Begräbnis begab, Umarra plötzlich hervortrat und den Weg versperrte und den Heiligen Prophetensaw bat, seine Entscheidung zu überdenken. Dabei erinnerte Umarra den Heiligen Prophetensaw an den Vers aus dem Heiligen Koran, in dem auf einige bekannte Heuchler dahingehend Bezug genommen wird, dass für sie keine Fürbitte akzeptiert werde, selbst wenn der Heilige Prophetsaw siebzigmal für sie betete. Wobei hier angemerkt werden muss, dass die Zahl siebzig nicht allzu buchstabengetreu zu verstehen ist, da sie der Benutzung im Arabischen zufolge nur verwendet wurde, um eine grosse Anzahl zu verdeutlichen. Wie auch immer, der Heilige Prophetsaw lächelte und antwortete:
“Geh beiseite, Umar, ich weiss es besser. Wenn ich weiss, dass Gott ihm nicht vergäbe, selbst wenn ich siebzigmal um seine Vergebung nachsuchte, würde ich mehr als siebzigmal um seine Vergebung nachsuchen.“
Anschliessend leitete der Prophetsaw das Totengebet. (Bukhari II, Kitabul Janais, Babul Kafani fil Kamisilladhi Yukaffu ‘au la Yukaffu)
Dies ist eine angemessene Erwiderung gegenüber denjenigen, die sich darob heiser schreien, für jenen Lästerer den Tod und nichts als den Tod zu verlangen, der es wagt, den Heiligen Begründersaw des Islam zu beleidigen. Eine solche Religion muss einen Anspruch darauf besitzen, in der Welt Frieden zwischen den Religionen zu errichten.
Der 4. Khalifa der Ahmadiyya Muslim Jamaat: Mirza Tahir Ahmad, Islam – Antworten auf die Fragen unserer Zeit, Verlag Der Islam, 2008, S. 55-62