Befriedigung der wirtschaftlichen Grundbedürfnisse
Im vorherigen Abschnitt über den volkswirtschaftlichen Frieden haben wir gesehen, dass der Islam den Gedanken des Almosengebens an die Armen und Bedürftigen von Grund auf umgestaltet hat. Insoweit die Rechte des Einzelnen am staatlichen Kuchen betroffen sind, stellt uns der Heilige Koran die Merkmale zur Verfügung, anhand derer wir bestimmen können, wie viel Reichtum, der an den kleinen Mann hätte fliessen sollen, in die Hände einiger weniger Kapitalisten geflossen ist:
“Und die, in deren Reichtum ein bestimmter Anteil ist für den Bittenden sowohl wie für den, der es nicht kann.“ (70:25-26)
Diese Verse sind an die Reichen gerichtet und erinnern sie daran, dass ein Teil ihres Reichtums umfasst, was von Rechts wegen dem Bettler und dem Notleidenden gehört. Wie können wir beurteilen, dass innerhalb einer Gesellschaft durch die Übertragung von Rechten, die den Armen gebühren, in die Hände einiger reicher Leute eine Ungleichheit entstanden ist? Die Messlatte dafür bilden bestimmte garantierte Grundrechte. Dem Islam zufolge gibt es vier Grundrechte des Menschen, die erfüllt werden müssen. Der Heilige Koran konstatiert:
“Es ist für dich (gesorgt), dass du darin weder Hunger fühlen noch nackend sein sollst. Und dass du darin nicht dürsten noch der Sonnenhitze ausgesetzt sein sollst.“ (20:119-120)
Somit begründet Islam in Form einer Vierpunkteverfassung Mindestrechte dadurch, dass er die Grundbedürfnisse, die ein Staat zur Verfügung stellen sollte, bestimmt:
- Nahrung
- Kleidung
- Wasser
- Obdach
Selbst in England oder den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es aberhunderttausende von Menschen ohne Obdach sowie jene, die, um ihren Hunger zu stillen, für einen Bissen Nahrung in Mülltonnen umherwühlen müssen. Solch hässliche Episoden entblössen die innewohnenden Schwächen der kapitalistischen Gesellschaft und fördern Anzeichen einer zugrunde liegenden, tiefen Misere zutage. Genussstreben in seiner reinsten Form gebirt Selbstsucht und Gefühllosigkeit und stumpft die menschliche Empfindsamkeit den Leiden anderer gegenüber ab.
Natürlich gibt es in den meisten Dritte-Welt-Ländern sogar noch abstossendere Schauplätze der Not, allerdings ist dort die Gesellschaft als solche arm, und die Länder selbst werden gemäss derselben kapitalistischen Grundgedanken regiert. Somit lautet die Frage nicht, ob die Bevölkerungsmehrheit Christen, Juden, Hindus, Muslime oder Heiden sind – das Gefüge bleibt seiner Natur nach grundsätzlich kapitalistisch. In den Ghettos der sogenannten entwickelten Nationen der Welt, die an sich schon ein Schandfleck im Angesicht der Menschheit sind, steigt die Kriminalität und blühen die Laster.
Es gibt Landstriche in Afrika und anderen Ländern, wo grosse Teile der Gesellschaft nicht einmal Zugang zu tragbarem Wasser haben. Wenn man auch nur ein reichliches Mahl pro Tag bekommt, schätzt man sich als glücklich. Wasser wird zu einem tagtäglichen Problem. Es gibt andere Länder in der Welt, die alle Möglichkeiten und alle Hilfsmittel besitzen, dieses Schicksal innerhalb ein paar weniger Jahre zu ändern, ohne dabei selbst überhaupt nur einen Stich zu verspüren. Und doch liegt solchen Ländern nichts daran, ihre Hilfsmittel dafür einzusetzen, die Nöte von hunderten von Millionen Menschen in ärmeren Ländern zu lindern.
Aus islamischer Sicht ist diese Frage sehr wichtig. Dem Islam zufolge sind es nicht nur die Leiden eines einzigen Menschen, für die die Gesellschaft dieses Landes verantwortlich ist, sondern es sind die Leiden jedes x-beliebigen Menschen in jeder x-beliebigen Gesellschaft, soll heissen, einer Menschheit, die weder geographische Grenzen kennt, noch Farben, Rassen oder politische Abgrenzungen. Die Menschheit im Grossen ist verantwortlich, und die Menschheit an sich ist Gott gegenüber verantwortlich. Wann immer Hungersnöte, Unterernährung oder Leiden aufgrund irgendeiner anderen Naturkatastrophe irgendeine beliebige Gemeinschaft befällt, muss dies als ein menschliches Problem behandelt werden. Alle Gesellschaften und Staaten der Welt müssen daran teilnehmen, die Leiden lindern zu helfen.
Es ist eine Schande, dass trotz aller Fortschritte in Wissenschaft und Technik der Ausrottung von Hunger und Durst nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, die sie verdient hat. Es muss ein Gefüge geben, womit die Gesamtsumme menschlichen Reichtums schnell und wirksam in jene Gegenden gelenkt werden kann, wo der Hunger zuschlägt oder Hungersnöte unter den Menschen Verwüstung anrichten, oder wo immer Menschen notleidend und heimatlos sind. Regierungen haben beides, nationale und internationale Verpflichtungen.
Diese Verpflichtungen haben auf staatlicher Ebene die Grundbedürfnisse jedes Mitglieds der Gesellschaft dadurch zu erfüllen, dass alle entsprechend ernährt, bekleidet sowie mit Wasser und Obdach versorgt werden. Die internationale Pflicht, auf die später weiter eingegangen werden wird, bedeutet uneingeschränkte Teilnahme an der Zusammenlegung von Hilfsmitteln, um den Herausforderungen umfangreicher Naturkatastrophen oder von Menschenhand verursachten Unheils entgegenzutreten, und um solchen Ländern zu helfen, die selbst nicht in der Lage sind, eine angemessene Krisenbewältigung zu leisten.
Als solches ist es die Pflicht des Staates, die Dinge zurechtzurücken, indem den Bettlern und armen Leuten das übergeben wird, was in der Tat ihnen gehört. So haben die vier grundlegenden Bedürfnisse von Nahrung, Kleidung, Wasser und Obdach Vorrang vor allen anderen Überlegungen. Mit anderen Worten: In einem wahrhaft islamischen Staat kann es weder einen Bettler noch einen Notleidenden ohne Nahrung, Kleidung, Wasser und Obdach geben. Sind diese übergeordneten Bedürfnisse garantiert, hat sich der Staat seiner Mindestpflichten entledigt. Von der Gesellschaft als solcher wird allerdings wesentlich mehr als dies erwartet. “Der Mensch lebt nicht nur von Brot allein“, lautet eine scharfsinnige Lebensregel. Fügen Sie dem sauberes Wasser, angemessene Kleidung und ein Dach über dem Kopf hinzu. Dennoch können all diese Bedürfnisse zusammengenommen das Leben nicht vollkommen machen.
Der Mensch ist immer auf der Suche nach mehr als den reinen Lebensnotwendigkeiten. Deshalb muss seitens der Gesellschaft noch etwas mehr getan werden, um die Eintönigkeit zu beseitigen, dem Leben der Armen ein wenig Farbe hinzuzufügen und um sie an einigen Vergnügungen der Reichen teilhaben zu lassen. Noch einmal, es genügt nicht, dass die begünstigteren Mitglieder der Gesellschaft ihren Reichtum mit den weniger glücklichen Mitgliedern der Gesellschaft teilen sollten. Sondern es ist genauso notwendig, dass sie an den Nöten, die sich aus der Armut ergeben und von der eine grosse Zahl von Menschen betroffen sind, teilhaben.
Es muss ein geordnetes Ganzes der Vermischung von Reichen und Armen geben, wobei die oberen Schichten der Gesellschaft aus freiem Willen mit den Menschen niederer Stände verkehren, um eigenhaftig zu erfahren, was es bedeutet, in Armut zu leben. Islam schlägt viele Massnahmen vor, die es den unterschiedlichen Klassen unmöglich macht, aufgeteilt und in ihre eigene gesellschaftliche Umgebung abgesondert zu werden. Einige dieser Massnahmen wurden zuvor bereits angesprochen.
Quelle: Der 4. Khalifa der Ahmadiyya Muslim Jamaat: Mirza Tahir Ahmad, Islam – Antworten auf die Fragen unserer Zeit, Verlag Der Islam, 2008, S. 239-244